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Zeichnung von Jonas im Comic Stil, um dessen Kopf bunte, gezeichnete Blätter schweben auf einem blauen Himmel; daneben eine düstere Wolke und Schriftzüge mit Mobbing, Schule, Coming Out, Angst, Heartstopper, Leben, Freunde, Charlie Spring

Meine Welt mit Heartstopper | Bild: Jonas B.

 
Artikel von Jonas B.
Bereich
Unterhaltung
Veröffentlicht
09.08.2022

Charlies und meine Gefühlsachterbahn

Mein Outing liegt schon 7 Jahre zurück, aber heute schreibe ich zum ersten Mal darüber. So offen und ehrlich habe ich noch nie zuvor meine Gedanken und Erlebnisse geteilt. Dazu veranlasst hat mich Charlie, ein Hauptcharakter der neuen Netflix Serie Heartstopper. Genau so eine Serie hätte ich mir damals auch gewünscht. Das hätte mir geholfen, mir manches vielleicht erspart. Gut, dass sie heute anderen jungen Leuten helfen kann und dazu möchte auch ich mit meiner persönlichen Geschichte einen Beitrag leisten.

Ich habe lange gelitten

Schon als ich klein war, war ich immer anders, immer der Außenseiter, der komisch war. Das fing im Kindergarten an, als mich keiner zum Kindergeburtstag eingeladen hat, niemand mit mir gespielt hat und meine Familie und ich hinter vorgehaltener Hand das spöttische Dorfgespräch waren. Ich kann mich daran zum Glück nicht selbst erinnern! Einfach war ich bestimmt nicht, aber wer ist das schon? In der Grundschule ist es nicht besser geworden, der Schwimmunterricht war spätestens ab da eine Qual, als Mitschüler meine Unterhose in den Mülleimer warfen und jeder einmal darauf spuckte. Ich weiß nicht mehr, ob ich geweint habe oder einfach nur verzweifelt war. Ich musste dann ohne Unterhose meine Jeans anziehen und so durch das Spalier der lachenden Mitschüler den Raum verlassen. Eine Demütigung. Ich habe mich absolut elend gefühlt. 

 

Ist es ok, wie ich bin?

Doch auch nach der Grundschule hörte es nicht auf. Im Alter von 15 Jahren habe ich festgestellt, dass es für mich wohl immer schon Jungs waren, die ich begehrt habe. Das war ein Prozess, in dem ich mich gefragt habe, ob es okay ist, wie ich bin. In dieser Zeit habe hauptsächlich ich selbst mir das Leben zur Hölle gemacht. Das klingt irgendwie ziemlich bescheuert, ist aber die Lebensrealität, wenn man sich und das, was man über sich herausfindet, nicht okay findet. Weil es nicht dem entspricht, was man immer gehört hat, wie man idealerweise sein sollte.

 

Schwul sein… das war weder daheim, noch in der Schule ein Thema. Ich wusste bis dahin nicht einmal, was das Wort “schwul” bedeutet und dann sollte ich das selbst sein? Das Wort, das bis heute eines der beliebtesten Schimpfwörter auf den Pausenhöfen ist? Das kann nicht sein, nein, das darf nicht sein.

 

Nach einiger Zeit des Hin- und Her-Überlegens, habe ich mich aber mit dem Gedanken schwul zu sein anfreunden können. Ich habe mich sogar bald getraut, mich bei Anderen zu outen. Das fühlte sich komisch und gleichzeitig unglaublich gut an, vor allem weil ich dort Zuspruch bekam. Nachdem es hier also zum ersten Mal seit der Grundschule besser gelaufen war, musste ich ein halbes Jahr später Schule wechseln. An der neuen Schule habe ich mein Schwulsein aber nicht klargestellt, sondern mich für Spiel des Ausweichens und Leugnens entschieden… Es war eine konservative Dorfschule. 

Im Bus geoutet

Ein Outing gab es trotzdem, obwohl ich das selbst nie wollte, denn für meine Mitschüler war ich dort wieder der, der anders ist und anders aussieht. Für sie war deshalb klar: Der ist sicher schwul. Angefangen hat es damit, dass einer der coolen Oberclowns mir durch den ganzen Bus nachrief „HEY, DU STEHST DOCH AUF GAYPORN! WIE ISN DAS?“. Spätestens ab da war ich Gespött und Aussätziger. Die Sportumkleide - die ich, schwul und unsportlich, ohnehin nur mit gesenktem Blick betreten habe – war die hochkonzentrierte Hölle. Dort wurde ich gefragt, ob mir die halbnackten Jungs gefallen, ob es mich erregt. Ganz offensiv, um mich vor allen zu demütigen. Und andererseits Drohungen, dass man mir, der Schwuchtel, bei einem falschen Blick eine reinhaut. Alltag. Sitznachbarn, die mir erklärten, dass mein Schwulsein für sie ja grundsätzlich kein Problem sei, aber mir sollte ja nicht einfallen, was von ihnen zu wollen, geschweige denn sie anzufassen. Und auch sonst immer wieder kleine Sticheleien, wie Schuhe, die versteckt wurden, damit ich mit Hausschuhen durch den starken Regen nach Hause gehen musste.

“Da musst du durch”

Das war die schlimmste Zeit meines Lebens. Und gerade in dieser Zeit hatte ich niemanden, der mich unterstützt hat. Ich hatte keine Freunde. Selbst die Lehrer fanden, dass ich selbst schuld sei. Und von allen anderen hieß es nur: “Da musst du durch.” “Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.” “Du wirst daran wachsen.” “Ignorier sie halt einfach.” ..oder noch schlimmer: “Wirst schon selbst schuld sein." Das hat mir so gar nicht geholfen. Ich hätte jemanden gebraucht, der mir zuhört und mich ernst nimmt! Nicht Leute, die alles besser wissen oder tolle Lebensweisheiten für mich haben, die mein Leben um exakt null Prozent verbessern. Eher hat es dazu geführt, dass ich mich nur noch schuldiger und überflüssiger gefühlt habe. Mein Kopf hat dann merkwürdige Gedanken produziert: Bin ich es wert zu leben? Was hat die Welt von meiner Existenz? Braucht mich überhaupt jemand? Soll das alles weitergehen, oder wie kann ich es beenden? Aber ICH WOLLTE NICHTS BEENDEN! Ich wollte leben! Ich wollte diese Gedanken nicht haben. Aber sie waren da.

Die Angst bleibt

Durch all das, was mir passiert ist, bin ich noch mehr zum Overthinker geworden, als ich es ohnehin schon war. Manchmal sind da Situationen, nach denen ich selbst denke „Mein Gott, da hast du dich ja total doof verhalten und blamiert“, obwohl andere das gar nicht so empfunden haben. Ich weiß nicht, ob ich mich richtig verhalten oder etwas Falsches getan oder gesagt habe und befürchte, dass man mich missversteht und dann vielleicht sogar sauer auf mich ist. Auch heute habe ich noch Angst vor dem Alleinsein, denn allein war ich zu lang in meinem Leben. Ich habe Sorge, meine Freunde und andere Menschen, die mir wichtig sind, durch eine blöde Reaktion von mir zu verlieren. Obwohl ich nie darum gebeten habe, legt bei mir dann ein Gedankenkarussell los. Und es gibt so eine Wochenvorschau, in der vor meinem inneren Auge so ein paar Szenarien ablaufen, was alles schiefgehen könnte. Toller Film! Manchmal belustigend actionreich, dann wieder einfach nur weird.

 

Ich hatte jahrelang nicht gewusst, wer ich bin, was ich machen will, wie mein Leben aussehen soll. Bis ich nach einem Schulwechsel auf die FOS wahnsinnig guten Menschen über den Weg gelaufen bin, die mein Leben so geprägt haben. Ohne sie würde ich heute weder solche Texte schreiben, noch Journalismus studieren, geschweige denn so bezaubernde, herausragend gute Freunde haben, die immer für mich da sind.

Heartstopper

Und dann ist etwas in mein Leben getreten, das mir jetzt wahnsinnig viel bedeutet: Ich habe Heartstopper angeschaut. Die neue Netflix-Serie bringt die grausame Realität von Mobbing und missbräuchlichem Verhalten ungeschönt auf den Bildschirm. Das ist auch 2022 noch immer Alltag für tausende Menschen, vor allem aus der LGBTQ+ Community. Von der Serie fühle ich mich gesehen und repräsentiert. Mobbing ist schlimm, aber es ist nicht das einzige, was das Leben als LGBTQ+ ausmacht: Auch für uns gibt es wahre Liebe, auch queere Leute dürfen einen sülzig-romantischen Hollywood-Kuss haben. Klar, Vorurteile erlebe ich täglich. Es läuft bei Weitem nicht alles gut, als Gesellschaft gibt es noch immer wahnsinnig viel zu tun, damit ich mir später nicht mehr Gedanken machen muss, ob ich die Hand eines potenziellen Partners in der Öffentlichkeit halten kann oder ständig Angst vor Gewalt haben muss. Es gibt Länder, in die ich mich nicht trauen kann zu reisen, weil dort die Art so zu leben wie ich halt bin unter Todesstrafe steht. Solche Dinge müssen daher unbedingt weiter angesprochen werden, damit sie sich ändern. 

 

Aber nur weil ich als queerer Mensch so etwas anspreche, ist das ja nicht alles in meinem Leben. Nicht alles im Leben eines schwulen Mannes ist Elend, Depression, Selbstzweifel und Drama. Es gibt auch für mich schöne Seiten des Lebens. Es ist traurig, dass sowas Selbstverständliches auch 2022 noch unterstrichen werden muss. Muss es aber, da manche als Reaktion auf Heartstopper’s positive Erzählung queerer Storys sich beschwert haben, dass queer zu sein ja niemals so leicht, so schön sein kann, das sei unrealistisch. Wie traurig ist das? 

 

Heartstopper thematisiert das Ganze auf eine für mich so wertvolle, richtige Weise: bad sides werden thematisiert, sie sind da, keiner redet Mobbing und Co weg. Und da darf sich das auch schlimm anfühlen und schlimm sein, so wie es im echten Leben halt auch ist. Aber dabei vergisst Heartstopper niemals das Licht am Ende des Tunnels, ohne dabei die deepen Themen zu beschönigen oder zu verwässern.

Charlie

Schön für mich ist auch, wie selbstverständlich und ohne Aufhebens über das Queersein der Charaktere gesprochen wird. Klar ist Charlie schwul, aber dankenswerterweise wird es nicht als sein einziges Charaktermerkmal gezeigt, es ist nicht das, was ihn alleinig ausmacht. Er hat so viel mehr als Person, ist unsicher, hat seine ganz eigene, spannende Weltsicht, die wir als Zuschauer verstehen lernen. Und all das auf diese Weise zu zeigen, ist so wichtig und gesund. Auch wieder etwas, das so selbstverständlich wirkt, es aber nicht ist.

 

Heartstopper’s wichtigste Botschaft: Es gibt gute Menschen, die dich ernst nehmen, die für dich da sind. Du wirst sie finden. Ich sehe in Charlie Spring, einem der Hauptcharaktere, jemanden, der mich an meine Vergangenheit erinnert. Auch Charlie ist durch die Hölle gegangen, wurde von Rugby-Spielern aus der Schule als schwul geoutet und gemobbt. Er hat aber auch Freunde, die für ihn da sind. In der Netflix Serie trifft Charlie auf Nick, der ebenfalls im Rugby-Team spielt, weshalb Charlie erstmal so gar nicht begeistert ist, in einem Kurs neben ihn gesetzt zu werden. Doch Nick scheint anders zu sein. Charlie hat schlagartig Gefühle für ihn. Zwischen den beiden entwickelt sich schnell eine Freundschaft, aber irgendwie funkt es immer wieder. Und so wird aus Zweifel Freundschaft und aus Freundschaft Liebe.

 

Charlie sitzt in seinem Zimmer auf dem Fußboden, gegen sein Bett gelehnt und schaut traurig in sein Handy
Charlie schaut traurig auf sein Handy | Credit: Netflix

 

Charlie hat durch seine Vergangenheit einen Hang entwickelt, sich für alles schuldig zu fühlen und entschuldigt sich für jede Kleinigkeit. Er will niemandem zur Last fallen. Ständig fragt er Nick, ob er das wirklich will, kann nicht glauben, dass sie wirklich Freunde sind. Ich kann das alles gut nachvollziehen und kenne das von mir. Ich und andere, die sowas erlebt haben, wurden so lange fertig gemacht, dass wir es schon gar nicht mehr glauben können, wenn wir auf Menschen treffen, die es ernst mit uns meinen. Und wenn wir solche Menschen dann in unserem Leben haben, haben wir ständig diese Angst, dass wir doch nur eine Last sein könnten, uns es mit ihnen verscherzen oder uns blöd verhalten. Denn in den eigenen Augen ist man selbst immer nur der Doofe, der es verbockt. Charlie Spring, ich fühle mit dir. Deine Geschichte ist auch meine Geschichte. Ich kenne das!

 

Mobbing ist scheiße. Damit macht man Menschen kaputt.

 

 

Wenn du mehr zur Serie Heartstopper erfahren willst, lies dir gerne mein Review dazu durch.

 

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